Karin Sveen

 
  Klassereise
Vermisste Gemeinschaft

Ivar Bakke - Morgenwelt - 23.april 2001

Zwei europäische Autoren beobachten unsere moderne Gesellschaft: Der Soziologe Zygmunt Bauman und die norwegische Autorin Karin Sveen analysieren unterschiedliche Milieus - und gelangen doch zu ähnlichen Ergebnissen.

"Die beiden Eigenschaften, die das menschliche Dasein am wenigsten entbehren kann, nämlich Freiheit und Geborgenheit, - beide unumgänglich notwendig - lassen sich ohne Reibungen nur schwer miteinander vereinen. Die beiden Qualitäten sind zugleich komplementär und unvereinbar; die Wahrscheinlichkeit, dass sie in Konflikt miteinander geraten, ist und war schon immer genauso groß, wie das Bedürfnis, beide miteinander zu vereinen." So heißt es bei Zygmunt Bauman in seinem kürzlich in einem norwegischen Verlag veröffentlichten Essay über "Vermisste Gemeinschaft. (Englischer Titel: "Community" , Polity Press, 2000 - Amn.d.Red.)

Der Schwerpunkt dieses reichhaltigen schmalen Buches besteht in der Analyse folgender Züge der gegenwärtigen Gesellschaft: Das moderne Zusammenleben in einer Gemeinschaft ist in zunehmendem Grade von Instabilität und Vorläufigkeit gekennzeichnet. Die Brüchigkeit von Gemeinschaft hinterlässt das Gefühl der Entbehrung. Zugleich ist die Konzeption von Moderne als einem gemeinsamen Projekt, wo jeder Mitbürger ist mit seinen Verpflichtungen und dem Anspruch auf soziale Geborgenheit, unter Druck geraten. Mobilität und persönliche Anpassungsfähigkeit sind wichtiger geworden als Loyalität und Gruppenzugehörigkeit. Immer weniger Menschen glauben an die Möglichkeit oder den Wert von langfristigen, kollektiven Strategien. Und in dem. Maße, da der kollektive Anspruch und die Forderungen, welche die Gesellschaft als Ganzes an das einzelne Individuum richtet, schwinden, lässt auch das Vertrauen des Einzelnen in die Gesellschaft nach: Darauf, dass die Gemeinschaft für sie sorgen wird, vertrauen zusehends weniger Menschen.

Baumans Essay mahnt uns, nicht zu vergessen, dass in unserem Jahrhundert märchenhafte Fortschritte stattgefunden haben, welche die Not der Abermillionen von Armen und Hilflosen milderten. Dies ist nur erreicht worden, weil man die Beseitigung der Armut als kollektive Verantwortung auffasste; die Frage wurde politisiert, und nicht individualisiert, wie dies in unseren Tagen geschieht. Den Armen war es einst aus materiellen Gründen nicht möglich, ihre formalen Freiheitsrechte zu verwirklichen (was allerdings kein Argument gegen die Freiheit ist, wie dies einst fälschlicherweise viele Marxisten glaubten). Die allgemeine Angleichung der materiellen Verhältnisse hat die "Chancengleichheit" verwirklicht und es dem Einzelnen ermöglicht, seine eigene Lebensführung einigermaßen frei wählen zu können - was die Armen früher nie konnten. Heute jedoch, wird versucht, diesen historischen Vorgang rückgängig zu machen - und zwar mit der propagandistischen Begründung, dass die Freiheit nun an allen Fronten siege.

Wie haben sich die Intellektuellen dieser gegenwärtigen Herausforderung gestellt? Laut Bauman haben viele der postmodernen Intellektuellen ihre Resignation mit geschönten Begriffen bemäntelt. Wenn Stadtteile an ethnischen Trennungslinien entlang ghettoisiert werden, ist es unangebracht, dies mit Lobreden über unsere bunte und spannende Multikultur gutzuheißen. Diejenigen, die tatsächlich gezwungen sind, in ethnischen Ghettos zu leben, wissen nur allzu gut, dass "Stigmata und öffentliche Erniedrigung keineswegs die Leidenden zu Brüdern macht", dies ist keine "natürliche", sondern eine unwürdige und unfreiwillige Schicksalsgemeinschaft. Die globale Elite mit ihrem "querkulturellen" Leben bewegt sich in der Tat in einer sozialen Blase von Gleichgesinnten, ohne jede verpflichtende, ständige Beziehung zu Leuten aus anderen Kulturen oder sozialen Schichten zu unterhalten. Bauman fürchtet die "Tribalisierung" und Zersplitterung der Gesellschaft und verweist auf die Elemente von sozialem Zwang, die sich notwendigerweise ergeben, wenn ethnische Identität als Ersatz für die mitbürgerliche Gemeinschaft dienen soll. Der Masse solcher Ghettobewohner fehlt ja auch jede materielle Basis, um die soziale und kulturelle Mobilität, welche die "Meritokratie" dieser globalen Elite kennzeichnet, nachahmen zu können.

Eine norwegische Autorin, Karin Sveen, hat neulich über das Thema der sozialen Zugehörigkeit und Herkunft geschrieben. Ihr Buch behandelt mehrere Aspekte, die auch Baumans Essay berührt. Beide Autoren lehnen es strikt ab, einer Identitäts-Schwärmerei zu folgen, welche "die gute alte Zeit" lobt. Laut Sveen "bezeichnet dies eher Furcht und Verachtung für die Gegenwart, als die Liebe zu dem Vergangenen, und eher eine Frontstellung gegen das Fremde, als ein Ort der Geborgenheit im Vertrauten."

Sveen gehört zu den vielen Leuten, denen in der Nachkriegszeit ermöglicht wurde, aus ihrer sozialen Schicht auszubrechen. Ihr "lebensgeschichtlicher Essay" heißt "Klassenreise". Schon damals nannte man diese Schicht nicht "Arbeiterklasse", und auch jetzt klingt diese Bezeichnung beinahe obszön. Die Mittelklasse fühlt sich dadurch beleidigt und die Arbeiterklasse fühlt sich abgewertet. Aber: Wie kommt es eigentlich dazu, dass man in einer Zeit, welche die kulturellen Unterschiede bejaht, so ungern über die unterschiedliche soziale Herkunft spricht? fragt Karin Sveen. Und sie fragt, in welchem Ausmaß ihr sozialer Hintergrund die Reise geprägt hat, damals, als es ihr und abertausenden anderer Leute möglich war, ihre alte Lebenswelt zu verlassen und sich hinein in das Neue, Unbekannte zu begeben.

Ihre Ansicht verweist vor allem auf eine ambivalente Haltung. Die Loyalität zu ihrem Herkunftsmilieu ist noch da, zeigt sich aber eher als eine Haltung des Verständnisses, denn der Kritiklosigkeit. Karin Sveen spricht über eine ihr eingeprägte soziale Erfahrung: das Gefühl, dass einem ein geringerer Wert zukommt. "Es lohnt sich nicht, zu rebellieren." Dann folgt: "Bleib’, wo du bist, oder glaubst du, besser als wir zu sein?' Entfremdung und Schamgefühl drohen jedem, der aus diesem. Herkunftsmilieu ausbricht. Anderseits: Wie verhält es sich mit der bürgerlichen Kultur und Bildung, die geradezu "weltfremd" - das deutsche Wort passt hier ausgezeichnet! - und ahnungslos gegenüber diesem sozialen Hintergrund zu sein scheint? Karin Sveens frühere Lebenswelt und ihr Idiom galten nicht als "normal" oder repräsentativ, weil sie in der Literatur nicht repräsentiert wurden. Das fiel auf und unterschied sich von dem Hintergrund der Mittelklasse, der eben überhaupt nicht als "Klassen-Hintergrund" galt.

Die Autorin fühlt sich aber auch in der Arbeiterpartei nicht zuhause: letztere erscheint ihr allzu kritiklos und anti-intellektuell. Die "Sozialistische Linkspartei mit ihren bürgerlichen Rebellen und den ewigen Debatten, schien ihr zwar viel. weltoffener zu sein - es erwies sich allerdings, dass diese Partei keine Ahnung von jener Arbeiterklasse hatte, die sie zu verehren vorgab. Das hat sich leider kaum geändert.

Was will Sveen also mit ihrem Buch sagen? Es geht darin um viel mehr als bloß um persönliche Vergangenheitsbewältigung. Ihr Buch richtet sich gegen die "modernisierte" Arbeiterpartei, die viele historische Chancen verpasst hat, aber einige noch zu bestehen hat. Wie kann die Kluft zwischen den Milieus so überbrückt werden, dass die Arbeiterklasse es für möglich hält, einen größeren Teil der "bürgerlichen" Kultur als einen Teil ihrer eigenen Lebenswelt zu begreifen? Und wie kann man verhindern, dass die Entfremdung der Arbeiterpartei von ihren traditionellen Wählern dazu führt, dass eben diese Wähler in die Arme der populistischen, völkischen Rechtsradikalen getrieben werden?

Es besteht natürlich die Gefahr, dass sowohl Bauman, als auch Sveen von jenen als "ewig gestrige" Autoren abgestempelt werden, die sich von deren Botschaft verunglimpft fühlen. Eine solche Einschätzung scheint mir grundfalsch zu sein. Mit ihrem Buch bewegt sich Karin Sveen in einem Bereich, für den wir fast kein adäquates Vokabular haben. Ihr Bemühen, uns ihren Erfahrungen näher zu bringen, hat es verdient, wahrgenommen zu werden. Es wäre zu wünschen, dass ihr Buch auch in anderen Sprachen veröffentlicht würde.

Zygmunt Bauman ist mit seinen nunmehr 75 Jahren erstaunlich flexibel, was seine Bereitschaft zum "Umdenken" angeht. Er steht mitten in seiner Gegenwart. Beide Autoren haben uns ein Werkzeug an die Hand gegeben, mit dem diese Gegenwart besser zu verstehen ist. Dennoch: Es ist bedauerlich, in welchem Ausmaß der akademische Sprachgebrauch ihre eigene Sprache beeinflusst hat. Sveen und Bauman schreiben nicht für, sondern über Herrn Jedermann. Ob es möglich ist, ihre Bücher vorzustellen, ohne ihre esoterischen Bandwurmisätze nachzuahmen, bleibt dahingestellt. Ich jedenfalls, schaffe es leider nicht.

 
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